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Hermann Hesse – Lebenslauf / 84 Zitate und 19 Gedichte / Über sich selbst / Interpretation zum Hesse-Gedicht „Stufen“ …

26. Mai 2002

Hermann Hesse Lebenslauf

Im Anschluss daran: 84 Zitate und 19 Gedichte

Im Anschluss daran: Hermann Hesse über sich selbst …

Im Anschluss daran: Erläuterung, Interpretation und Resümee zum Hesse-Gedicht: „STUFEN“

Hermann Hesse Lebenslauf:

1877

2. Juli: Hermann Hesse wird als Sohn des pietistischen Missionars Johannes Hesse und dessen Frau Marie (geb. Gundert) in Calw geboren.

1891

Er wird als Stipendiat in das evangelische Klosterseminar Maulbronn aufgenommen. Sieben Monate später flieht er, weil er nach eigenen Angaben „entweder Dichter oder gar nichts werden“ will.

1893

Kurz nach dem Bestehen des Einjährigen-Examens (Mittlere Reife) verlässt er das Cannstatter Gymnasium.

1895

Hesse schließt eine Lehre als Turmuhrenmechaniker ab und beginnt eine zweite als Buchhändler in Tübingen.

Erste literarische Arbeiten entstehen.

1898

Hesses erste Lyriksammlung „Romantische Lieder“ erscheint.

1899

Hesse veröffentlicht Prosastücke unter dem Titel „Eine Stunde hinter Mitternacht“.

1899-1903

Er arbeitet als Buchhändler und Antiquar in Basel.

1904

Der literarische Durchbruch gelingt ihm mit dem zivilisationskritischen Entwicklungsroman „Peter Camenzind“.

Er heiratet die Basler Photographin Maria Bernoulli. Aus der Ehe gehen drei Söhne hervor.

1904-1912

Hesse lebt als freier Schriftsteller mit seiner Familie in einem Bauernhaus in Gaienhofen am Bodensee.

1906

In der Erzählung „Unterm Rad“ verarbeitet er eigene Schulerfahrungen und Jugendkrisen.

1907-1912

Zusammen mit Albert Langen (1869-1909), Ludwig Thoma (1867-1921) u. a. gibt Hesse die linksliberale Zeitschrift „März“ heraus. Er betreut den belletristischen Teil.

1911

Hesse bereist mehrere Monate mit dem Maler Hans Sturzenegger (1875-1943) Ceylon, Singapur und Sumatra, die Wirkungsstätten seines in der Mission tätigen Vaters wie seines Großvaters. Seine Hoffnung auf spirituell-religiöse Inspiration erfüllt diese Reise nach eigener Aussage nicht, dennoch wirkt sie auf sein weiteres literarisches Werk.

1912

Übersiedlung mit der Familie nach Bern.

1914

Bei Beginn des Ersten Weltkriegs meldet Hesse sich freiwillig zum Militärdienst für das Deutsche Reich. Er wird jedoch aufgrund seiner hochgradigen Kurzsichtigkeit für „felddienstuntauglich“ erklärt. Daraufhin arbeitet er in der Kriegsgefangenenfürsorge. Unter dem Eindruck dieser Tätigkeit spricht er sich öffentlich gegen patriotische Kriegsdichtung aus und wird deshalb von rechtsstehenden Publizisten zum Vaterlandsverräter erklärt. Daraufhin reift bei Hesse der Entschluß heran, sich um die schweizerische Staatsbürgerschaft zu bemühen.

ab 1916

Der Tod seines Vaters, eine schwere Erkrankung seines Sohnes Martin, die ausbrechende Schizophrenie seiner Ehefrau und nicht zuletzt die Enttäuschung über das politische Versagen vieler Künstler und Intellektueller angesichts des Kriegs führen Hesse in eine tiefe Krise. Er unterzieht sich daraufhin einer Psychoanalyse bei einem Schüler von Carl Gustav Jung (1875-1961). Diese Erfahrungen fließen in den Roman „Demian“ (1919) ein.

Erste malerische Arbeiten entstehen.

ab 1919

Hesse übersiedelt ohne seine Familie nach Montagnola im Tessin, wo er den Rest seines Lebens verbringt.

In zahlreichen Publikationen und in Antworten auf Leserbriefe wendet sich Hesse an die deutsche Jugend in der Hoffnung, Deutschland geistig zu erneuern und einen weiteren Krieg zu verhindern.

1922

Der Roman „Siddharta“ erscheint.

1923

Hesse erhält die schweizerische Staatsbürgerschaft.

Scheidung von seiner Frau.

1924

Ehe mit Ruth Wenger. Die Verbindung wird 1927 geschieden.

1926

Hesse wird in die Preußische Akademie der Künste gewählt.

1927

Der Roman „Steppenwolf“ wird veröffentlicht.

1930

Der Roman „Narziß und Goldmund“ erscheint.

1931

Heirat mit der Kunsthistorikerin Ninon Dolbin (geb. Ausländer).

Beginn der Arbeit am „Glasperlenspiel“.

Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste aus politischen Gründen.

1933-1945

Obwohl Hesse keine politischen Aufrufe unterzeichnet, läßt er in seinen Privatbriefen und literarischen Kritiken keinen Zweifel an seiner Ablehnung des NS-Regimes. Er dient zahlreichen Künstlern, die aus Deutschland fliehen, als erste Anlaufstation.

1942

Er gibt sein lyrisches Werk gesammelt heraus.

ab 1943

Nach dem Erscheinen des „Glasperlenspiels“ zieht sich Hesse aufgrund seines schlechter werdenden Gesundheitszustandes, vor allem wegen seiner zunehmenden Sehschwäche, weitgehend aus dem literarischen Leben zurück.

1946

Hesse erhält den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/Main.

Er wird für sein Lebenswerk mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

1947

Ihm wird die Ehrendoktorwürde der Universität Bern verliehen.

1955

Hesse erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

1962

9. August: Hermann Hesse stirbt in Montagnola.

(rm)

 

 

Hermann Hesse …

Zitate und Gedichte


01. Man braucht vor niemand Angst zu haben. Wenn man jemanden fürchtet, dann kommt es daher, daß man diesem Jemand Macht über sich eingeräumt hat.

– Hermann Hesse, Demian

 

02. Man hat nur Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist.

– Hermann Hesse, Demian

 

03. Der Mensch ist zu nichts schwerer zu bringen als zu seinem Glück.

– Hermann Hesse, Der Weltverbesserer

 

04. Wenn wir einen Menschen glücklicher und heiterer machen können, so sollten wir es in jedem Fall tun, mag er uns darum bitten oder nicht.

– Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel

 

05. Gewiss, zwei Völker und zwei Sprachen werden einander nie sich so verständlich und so intim mitteilen können wie zwei einzelne, die derselben Nation und Sprache angehören. Aber das ist kein Grund, auf Verständigung und Mitteilung zu verzichten. Auch zwischen Volks- und Sprachgenossen stehen Schranken, die eine volle Mitteilung und ein volles gegenseitiges Vertrauen verhindern, Schranken der Bildung, der Erziehung, der Begabung, der Individualität. Man kann behaupten, jeder Mensch auf Erden könne grundsätzlich mit jedem andern sich aussprechen, und man kann behaupten, es gebe überhaupt keine zwei Menschen in der Welt, zwischen denen eine echte, lückenlose, intime Mitteilung und Verständigung möglich sei – eins ist so wahr wie das andre.

– Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel

 

06. Gerade das ist es ja, das Leben, wenn es schön und glücklich ist ein Spiel! Natürlich kann man auch alles mögliche andere aus ihm machen, eine Pflicht oder einen Krieg oder ein Gefängnis, aber es wird dadurch nicht hübscher.

– Hermann Hesse, Die Morgenlandfahrt

 

07. Das Beste daran war aber nicht das Küssen und nicht das abendliche Zusammenpromenieren und Heimlichtun. Das Beste war die Kraft, die mir aus jener Liebe floß, die fröhliche Kraft, für sie zu leben, zu streiten, durch Feuer und Wasser zu gehen. Sich wegwerfen können für einen Augenblick, Jahre opfern können für das Lächeln einer Frau, das ist Glück.

– Hermann Hesse, Eine Fußreise im Herbst

 

08. Indem ich allein dahinmarschierte, fiel mir ein, daß ich im Grunde alle meine Wege so einsam gemacht habe, und nicht nur die Spaziergänge, sondern alle Schritte meines Lebens.

– Hermann Hesse, Eine Fußreise im Herbst

 

Im Nebel

Seltsam im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum kennt den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war,
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

(Hermann Hesse, Eine Fußreise im Herbst)

 

9. Wertlos, so schien es ihm, wertlos und sinnlos hatte er sein Leben dahingeführt; nichts Lebendiges, nichts irgendwie Köstliches oder Behaltenswertes war ihm in Händen geblieben. Allein stand er und leer, wie ein Schiffbrüchiger am Ufer.

– Hermann Hesse, Siddhartha

 

10. Ich habe mein Leben gehabt, wie es mir passte, und es hat mir nicht an Freiheit und an Schönem gefehlt, aber ich bin doch immer allein geblieben.

– Hermann Hesse, Das Ende

 

11. Er sah auch plötzlich ein, daß sein kleines Schicksal nichts Besonderes und keine grausame Ausnahme sei, sondern daß auch über denen, die er für Glückliche angesehen hatte, unentrinnbar das Schicksal walte.

– Hermann Hesse, Der Lateinschüler

 

12. Wenn ich mich nun besinne, für wen ich diese Blätter beschreibe, wer eigentlich soviel Macht über mich hat, daß er Bekenntnisse von mir fordern und meine Einsamkeit durchbrechen kann, so muß ich einen lieben Frauennamen sagen, der mir nicht nur ein großes Stück Erleben und Schicksal umfaßt, sondern wohl auch als Stern und hohes Sinnbild über allem zu stehen mag.

– Hermann Hesse, Gertrud

 

13. Wohl hatte ich gemeint zu wissen, was Liebe sei, und war mir damit weise vorgekommen, hatte getröstet aus neuen Augen in die Welt geschaut und einen näheren und tieferen Anteil an allem Leben gefühlt. Nun war es anders, nun war es nicht mehr Klarheit, Trost und Heiterkeit, sondern Sturm und Flamme, nun warf mein Herz sich jauchzend und zitternd weg, wollte nichts mehr vom Leben wissen und nur in seiner Flamme verbrennen. Wenn mich jetzt einer gefragt hätte, was denn die Liebe sei, da hätte ich es wohl zu wissen geglaubt und hätte es sagen können, und es hätte dunkel und lodernd geklungen.

– Hermann Hesse, Gertrud

 

14. Liebe kann man erbetteln, erkaufen, geschenkt bekommen, auf der Gasse finden, aber rauben kann man sie nicht.

– Hermann Hesse, Siddhartha

 

15. Vieles lehrte ihn ihr roter, kluger Mund. Vieles lehrte ihn ihre zarte, geschmeidige Hand. Ihn, der in der Liebe noch ein Knabe war und dazu neigte, sich blindlings und unersättlich in die Lust zu stürzen wie ins Bodenlose, lehrte sie von Grund auf die Lehre, daß man Lust nicht nehmen kann, ohne Lust zu geben, und daß jede Gebärde, jedes Streicheln, jede Berührung, jeder Anblick, jede kleinste Stelle des Körpers ihr Geheimnis hat, das zu wecken dem Wissenden Glück bereitet.

– Hermann Hesse, Siddhartha

 

16. Ihr Lächeln war von der echten Art. Es geschah weniger mit den Lippen als mit den Augen; das ganze Gesicht, Stirn und Wangen glänzten innig mit, und es sah aus wie ein tiefes Verstehen und Liebhaben.

– Hermann Hesse, Heumond

 

17. Wahr ist an einer Geschichte immer nur das, was der Zuhörer glaubt.

– Hermann Hesse, Heumond

 

18. So ist es, wenn ein Mensch sein Liebesvermögen auf einen einzigen Gegenstand gesammelt hat; mit dessen Verlust stürzt alles zusammen, und er steht arm zwischen Trümmern.

– Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel

 

19. Incipit vita nova. Ich bin ein Neuer geworden, mir selbst noch ein Wunder, ruhend zugleich und tätig, empfangend und schenkend, ein Besitzer von Gütern, deren werteste ich vielleicht noch gar nicht kenne.

– Hermann Hesse, Incipit vita nova

 

20. „Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen als bis sie es können.“ Ist das nicht witzig? Natürlich wollen sie nicht schwimmen! Sie sind ja für den Boden geboren, nicht fürs Wasser. Und natürlich wollen sie nicht denken; sie sind ja fürs Leben geschaffen, nicht fürs Denken!

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

21. Nichts ist gefährlicher und seelenmordender als die beständige Beschäftigung mit dem eigenen Wesen und Ergehen, der eigenen einsamen Unzufriedenheit und Schwäche.

– Hermann Hesse, Der Weltverbesserer

 

22. Daß ein Mensch sein Leben lang immer und immer den Geist verehren und die Natur verachten kann, immer Revolutionär und niemals Konservativer sein kann oder umgekehrt, das scheint mir zwar sehr tugendhaft, charaktervoll und standhaft, aber es scheint mir auch ebenso fatal, widerlich und verrückt, als wenn einer immerdar essen oder immerdar nur schlafen wollte.

– Hermann Hesse, Kurgast

 

23. Schreiben ist gut, Denken ist besser. Klugheit ist gut, Geduld ist besser.

– Hermann Hesse, Siddhartha

 

24. Wenn jemand sucht, dann geschieht es leicht, daß sein Auge nur noch das Ding sieht, das er sucht, daß er nichts zu finden, nichts in sich einzulassen vermag, weil er nur an das Gesuchte denkt, weil er ein Ziel hat, weil er von Ziel besessen ist. Finden aber heißt: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben.

– Hermann Hesse, Siddhartha

 

25. Eine schlaflose Nacht ist immer eine lästige Sache. Aber sie ist erträglich, wenn man gute Gedanken hat. Wenn man daliegt und nicht schläft, ist man leicht ärgerlich und denkt an ärgerliche Dinge. Aber man kann auch seinen Willen brauchen und Gutes denken.

– Hermann Hesse, Schön ist die Jugend

 

 

Allein

 

Es führen über die Erde Straßen und Wege viel,

Aber alle haben dasselbe Ziel,

Du kannst reiten und fahren,

zu zweien und zu dreien…

Den letzten Schritt mußt du gehen allein.

Drum ist kein Wissen, noch Können so gut,

Als daß man alles Schwere nicht alleine tut.

(Hermann Hesse)

 

26. Man sollte auf alles achten, denn man kann alles deuten.
– Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel

 

27. Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsichtiges, Feindliches. Er ist ein von unbekanntem Berge hereinbrechender Strom und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muß, so muß die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken.

– Hermann Hesse, Unterm Rad

 

Doch heimlich dürsten wir …

Anmutig, geistig, arabeskenzart Scheint unser Leben sich wie das von Feen In sanften Tänzen um das Nichts zu drehen,  Dem wir geopfert Sein und Gegenwart.  Schönheit der Träume, holde Spielerei,  So hingehaucht, so reinlich abgestimmt,  Tief unter deiner heiteren Fläche glimmt  Sehnsucht nach Nacht, nach Blut, nach Barbarei.  Im Leeren dreht sich , ohne Zwang und Not,  Frei unser Leben, stets zum Spiel bereit,  Doch heimlich dürsten wir nach Wirklichkeit,  Nach Zeugung und Geburt, nach Leid und Tod.

(aus „Das Glasperlenspiel“)

 

28. Wie ein schüchternes Mädchen blieb er sitzen und wartet, ob einer käme ihn zu holen, ein Stärkerer und Mutigerer als er, der ihn mitrisse und zum Glücklichsein zwänge.

– Hermann Hesse, Unterm Rad

 

29. Auf einem kurzen Nachtgang vor dem Schlafengehen sah ich Sterne in den Regenpfützen gespiegelt, sah im Nachtwind am Ufer des heftig rauschenden Flusses ein paar außerordentlich schöne alte Bäume. Sie würden auch morgen noch schön sein, aber in diesem Augenblick hatten sie die magische, nicht wiederkehrende Schönheit, die aus unserer Seele kommt und die, nach den Griechen, nur dann in uns aufleuchtet, wenn uns Eros angeblickt hat.

– Hermann Hesse, Kurgast

 

30. Es heiratet keiner, damit er Kinder kriege, aber wenn er Kinder kriegt, so ändern sie ihn, und schließlich sieht er, daß alles doch nur für sie geschehen ist.

– Hermann Hesse, Gertrud

 

31. Wer nicht am Denken leidet, den freut das Aufstehen am Morgen und das Essen und Trinken, der findet Genüge darin und will es nicht anders. Wem aber diese Selbstverständlichkeit verlorenging, der sucht im Laufe der Tage begierig und wachsam nach den Augenblicken wahren Lebens, deren Aufblitzen beglückt und das Gefühl der Zeit samt allen Gedanken an Sinn und Ziel des Ganzen auslöscht.

– Hermann Hesse, Gertrud

 

32. Ich wußte plötzlich wieder, daß der Tod unser kluger und guter Bruder ist, der die rechte Stunde weiß und dessen wir mit Zuversicht gewärtig sein dürfen. Und ich begann auch zu verstehen, daß das Leid und die Enttäuschungen und die Schwermut nicht da sind, um uns verdrossen und wertlos und würdelos zu machen, sondern um uns zu reifen und zu verklären.

– Hermann Hesse, Peter Camenzind

 

Musik des Weltalls und Musik der Meister

Sind wir bereit mit Ehrfurcht anzuhören, Zu reiner Feier die verehrten Geister Begnadeter Zeiten zu beschwören.  Wir lassen vom Geheimnis uns erheben Der magischen Formelschrift, in deren Bann Das Uferlose, Stürmende, das Leben, Zu klaren Gleichnissen gerann.  Sternbildern gleich ertönen sie kristallen, In ihrem Dienst ward unserm Leben Sinn, Und keiner kann aus ihren Kreisen fallen, Als nach der heiligen Mitte hin.  Es führen über die Erde Strassen und Wege viel, Aber alle haben Dasselbe Ziel  Du kannst reiten und fahren Zu zwein und zu drein, Den letzten Schritt Mußt du gehen allein.  Drum ist kein Wissen Noch Können so gut, Als daß man alles Schwere Alleine tut.      Entgegenkommen  Die ewig Unentwegten und Naiven Ertragen freilich unsre Zweifel nicht. Flach sei die Welt, erklären sie uns schlicht, und Faselei die Sage von den Tiefen.  Denn sollt es wirklich andre Dimensionen Als die zwei guten, altvertrauten geben, Wie könnte da ein Mensch noch sicher wohnen, Wie könnte da ein Mensch noch sorglos leben?  Um also einen Frieden zu erreichen, So laßt uns eine Dimension denn streichen!  Denn sind die Unentwegten ehrlich, Und ist das Tiefensehen so gefährlich, Dann ist die dritte Dimension entbehrlich.

(Hermann Hesse)

 

33. Damit das Mögliche entstehe, muß immer wieder das Unmögliche versucht werden.

– Hermann Hesse, Zen, Brief an Wilhelm Gundert

 

34. Was gut ist, wissen wir, es steht in den Geboten. Aber Gott ist nicht nur in den Geboten, sie sind nur der kleinste Teil von ihm. Du kannst bei den Geboten stehen und kannst weit von Gott weg sein.

– Hermann Hesse, Narziß und Goldmund

 

35. Glaube und Zweifel bedingen einander wie Ein- und Ausatmen; sie gehören zusammen.

– Hermann Hesse

 

36. Wer „nicht in die Welt paßt“, der ist immer nahe daran, sich selber zu finden.

– Hermann Hesse, Demian

 

37. Die meisten Menschen sind wie ein fallendes Blatt, das weht und dreht sich durch die Luft, und schwankt, und taumelt zu Boden. Andre aber, wenige, sind wie Sterne, die gehen eine feste Bahn, kein Wind erreicht sie, in sich selber haben sie ihr Gesetz und ihre Bahn.

– Hermann Hesse, Siddhartha

 

Kennst Du das auch?

Kennst du das auch, daß manches mal Inmitten einer lauten Lust,

Bei einem Fest, in einem frohen Saal,

Du plötzlich schweigen und hinweggehen musst?

Dann legst du dich aufs Lager ohne Schlaf.

Wie Einer, den plötzlich Heimweh traf;

Lust und Gelächter ist verstiebt wie Rauch,

Du weinst, ohne Halt –

Kennst du das auch?

(Hermann Hesse)

 

Altwerden

All der Tand, den Jugend schätzt,  Auch von mir ward er verehrt,

Locken, Schlipse, Helm und Schwert  Und die Weiblein nicht zuletzt.

Aber nun erst seh ich klar,  Da für mich, den alten Knaben,

Nichts von allem mehr zu haben.

Aber nun erst seh ich klar,  Wie dies Streben weise war.

Zwar vergehen Band und Locken  Und der ganze Zauber bald;

Aber was ich sonst gewonnen,  Weisheit, Tugend, warme Socken,

Ach auch das ist bald zerronnen,  Und auf Erden wird es kalt.

Herrlich ist für alte Leute  Ofen und Burgunder rot

Und zuletzt ein sanfter Tod –  Aber später, noch nicht heute!

(Hermann Hesse)

 

Belehrung

Mehr oder Weniger, mein lieber Knabe, sind schließlich alle Menschenworte Schwindel,
verhältnismäßig sind wir in der Windel am ehrlichsten, und später dann im Grabe.
Dann legen wir uns zu den Vätern nieder, sind endlich weise und voll kühler Klarheit,
mit blanken Knochen klappern wir die Wahrheit,
und mancher lög und lebte lieber wieder.

(Hermann Hesse)

 

Altern

So ist das Altern:

was einst Freude war,

Wird Mühsal, und der Quell rinnt trüber,

Sogar der Schmerz ist seiner Würze bar –

Man tröstet sich: bald ist’s vorüber.

Wogegen wir uns einst so stark gewehrt:

Bindung und Last und auferlegte Pflichten,

Hat sich in Zuflucht und in Trost verkehrt:

Man möchte doch ein Tagwerk noch verrichten.

Doch reicht auch dieser Bürgertrost nicht weit,

Die Seele dürstet nach beschwingten Flügen.

Sie ahnt den Tod, weit hinter Ich und Zeit,

Und atmet tief ihn ein in gierigen Zügen.

(Hermann Hesse)

 

38. Der Blick in den Sternenhimmel und ein Ohr voller Musik vor dem Zubettgehen, das ist besser als alle deine Schlafmittel.

– Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel

 

39. Das, was wahr ist, und wie das Leben eigentlich eingerichtet ist, das muß ein jeder sich selber ausdenken und kann es aus keinem Buch lernen.

– Hermann Hesse, Vorfrühling

 

40. Die Gottheit ist in dir, nicht in den Begriffen und Büchern. Die Wahrheit wird gelebt, nicht doziert.

– Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel

 

41. Wenn im Kampf der Interessen und Schlagworte die Wahrheit in Gefahr kommt, ebenso entwertet, entstellt und vergewaltigt zu werden wie der Einzelmensch, wie die Sprache, wie die Künste, wie alles Organische und kunstvoll Hochgezüchtete, dann ist es unsere einzige Pficht, zu widerstreben und die Wahrheit, das heißt das Streben nach Wahrheit, als unseren obersten Glaubenssatz zu retten.

Der Gelehrte, der als Redner, als Autor, als Lehrer wissentlich das Falsche sagt, wissentlich Lügen und Fälschungen unterstützt, handelt nicht nur gegen organische Grundgesetze, er tut außerdem, jedem aktuellen Anschein zum Trotz, seinem Volke keinen Nutzen, sondern schweren Schaden, er verdirbt ihm Luft und Erde, Speise und Trank, er vergiftet das Denken und das Recht und hilft allem Bösen und Feindlichen, das dem Volke Vernichtung droht.

– Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel

 

42. Wenn man einen Stein ins Wasser wirft, so eilt er auf dem schnellsten Weg zum Grunde des Wassers. So ist es, wenn Siddhartha ein Ziel, einen Vorsatz hat. Siddhartha tut nichts, er wartet, er denkt, er fastet, aber er geht durch die Dinge der Welt hindurch wie der Stein durchs Wasser, ohne etwas zu tun, ohne sich zu rühren: er wird gezogen, er läßt sich fallen. Sein Ziel zieht ihn an sich, denn er läßt nichts in seine Seele ein, was dem Ziel widerstreben könnte.

Das ist es, was Siddhartha bei den Samanas gelernt hat. Es ist das, was die Toren Zauber nennen und wovon sie meinen, es werde durch die Dämonen bewirkt. Nichts wird von den Dämonen bewirkt, es gibt keine Dämonen. Jeder kann zaubern, jeder kann seine Ziele erreichen, wenn er denken kann, wenn er fasten kann.

– Hermann Hesse, Siddhartha

 

43. Das Ziel ist dies: mich immer dahin zu stellen, wo ich am besten dienen kann, wo meine Art, meine Eigenschaften und Gaben den besten Boden, das größte Wirkungsfeld finden. Es gibt kein anderes Ziel.

– Hermann Hesse, Narziß und Goldmund

 

44. Man konnte den Leuten in ihrer Dummheit zusehen, man konnte über sie lachen oder Mitleid mit ihnen haben, aber man mußte sie ihrer Wege gehen lassen.

– Hermann Hesse, Vorfrühling

 

45. Jeder von uns ist nur ein Mensch, nur ein Versuch, ein Unterwegs. Er sollte aber dorthin unterwegs sein, wo das Vollkommene ist, er soll ins Zentrum streben, nicht an die Peripherie.

– Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel

 

Auf den Tod eines kleinen Kindes…

Jetzt bist du schon gegangen, Kind,
Und hast vom Leben nichts erfahren,
Indes in unseren welken Jahren
Wir Alten noch gefangen sind.

Ein Atemzug, ein Augenspiel,
Der Erde Luft und Licht zu schmecken,
War dir genug und schon zuviel;
Du schliefst ein, nicht mehr zu wecken.

Vielleicht in diesem Hauch und Blick
Sind alle Spiele, alle Mienen
Des ganzen Lebens dir erschienen,
Erschrocken zogst du dich zurück.

Vielleicht wenn unsre Augen, Kind,
Einmal erloschen, wird uns scheinen,
Sie hätten von der Erde, Kind,
Nicht mehr gesehen als die deinen.

(Hermann Hesse)

 

46. Nun, wo ein Anfang gemacht ist, kommt immer das Beste von selber nach.

– Hermann Hesse, Peter Camenzind

 

47. Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit.

– Hermann Hesse, Siddhartha

 

48. Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren kann man sie nicht.

– Hermann Hesse, Siddhartha

 

Glück

 

Solang du nach dem Glücke jagst, Bist du nicht reif zum Glücklichsein,

Und wäre alles Liebste dein.

Solang du um Verlornes klagst Und Ziele hast und rastlos bist,

Weißt Du noch nicht, was Friede ist.

Erst wenn du jedem Wunsch entsagst, Nicht Ziel mehr noch Begehren kennst, Das Glück nicht mehr mit Namen nennst,  Dann reicht dir des Geschehens Flut Nicht mehr ans Herz, und deine Seele ruht.

(Hermann Hesse)

 

49. Es ist gut, alles selber zu kosten, was man zu wissen nötig hat.

– Hermann Hesse, Siddhartha

 

50. Es ist so gut, das zu wissen: daß in uns drinnen einer ist, der alles weiß, alles will, alles besser macht als wir selber.

– Hermann Hesse, Demian

 

51. Zum erstenmal klang die äußere Welt mit meiner innern rein zusammen – dann ist Feiertag der Seele, dann lohnt es sich zu leben.

– Hermann Hesse, Demian

 

 

Ich bin ein Stern

 

Ich bin ein Stern am Firmament,
Der die Welt betrachtet, die Welt verachtet,
Und in der eignen Glut verbrennt.

Ich bin das Meer, das nächtens stürmt,
Das klagende Meer, das opferschwer
Zu alten Sünden neue türmt.

Ich bin von Eurer Welt verbannt
Vom Stolz erzogen, vom Stolz belogen,
Ich bin ein König ohne Land.

Ich bin die stumme Leidenschaft,
Im Haus ohne Herd, im Krieg ohne Schwert,
Und krank an meiner eignen Kraft.
(Hermann Hesse)

Ich fragte dich, warum dein Auge gern
In meinem Auge ruht,
So wie ein reiner Himmelsstern
In einer dunklen Flut.

Du sahest lang mich an,
Wie man ein Kind mit Blicken mißt,
Und sagtest freundlich dann:
Ich bin dir gut, weil du so traurig bist.

(Hermann Hesse, Maria)

 

52. Tu den Schritt und wirf einmal alles weg, so wirst du plötzlich die Welt wieder mit hundert schönen Dingen auf dich warten sehen.

– Hermann Hesse, Roßhalde

 

53. Glücklich ist, wer hofft!

 

– Hermann Hesse, Roßhalde

54. Mochte es mir gehen, wie es wollte, ich war selig, diese Frau in der Welt zu wissen, ihre Stimme zu trinken und ihre Nähe zu atmen.

– Hermann Hesse, Demian

 

Wiedersehen

 

Hast du das ganz vergessen,
Daß einst dein Arm in meinem hing
Und Wonne unermessen
Von deiner Hand in meine Hand
Von meinem Mund in deinen überging,
Und daß dein blondes Haar
Einst einen flüchtigen Frühling lang
Der selige Mantel meiner Liebe war,
Und daß die Welt einst duftete und klang,
Die jetzt so grau verdrossen liegt,

Von keinem Liebessturm, von keiner Torheit mehr gewiegt?

Was wir einander wehe tun,
Die Zeit verweht’s, das Herz vergißt;
Die seligen Stunden aber ruhn
In einem Glanz, der ohne Ende ist.

(Hermann Hesse)

 

Bücher

 

Alle Bücher dieser Welt
Bringen dir kein Glück,
Doch sie weisen dich geheim
In dich selbst zurück.

Dort ist alles, was du brauchst,
Sonne Stern und Mond,
Denn das Licht, wonach du frugst,
In dir selber wohnt.

Weisheit, die du lang gesucht
In den Bücherein,
Leuchtet jetzt aus jedem Blatt –
Denn nun ist sie dein.

(Hermann Hesse)

 

55. Ja, man muß seinen Traum finden, dann wird der Weg leicht. Aber es gibt keinen immerwährenden Traum, jeden löst ein neuer ab, und keinen darf man festhalten wollen.

– Hermann Hesse, Demian

 

56. Es war um nichts schade, was vorüber war. Schade war es um das Jetzt und Heute, um all diese ungezählten Stunden und Tage, die ich verlor, die ich nur erlitt, die weder Geschenke noch Erschütterungen brachten. Aber Gott sei gelobt, es gab auch Ausnahmen, es gab zuweilen, selten, auch andre Stunden, die brachten Erschütterung, brachten Geschenke, rissen Wände ein und brachten mich Verirrten wieder zurück ans lebendige Herz der Welt.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

57. Einsamkeit ist Unabhängigkeit, ich hatte sie mir gewünscht und mir erworben in langen Jahren. Sie war kalt, o ja, sie war aber auch still, wunderbar still und groß wie der kalte stille Raum, in dem die Sterne sich drehen.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

58. Er hatte vieles von dem gelernt, was Menschen mit gutem Verstand lernen können, und er war ein ziemlich kluger Mann. Was er aber nicht gelernt hatte, war dies: mit sich und seinem Leben zufrieden zu sein. Dies konnte er nicht, er war ein unzufriedener Mensch.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

59. Nun, jeder hat sein Los, und leicht ist keines.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

60. Und auch das unglücklichste Leben hat seine Sonnenstunden und kleinen Glücksblumen zwischen dem Sand und Gestein.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

61. Er erreichte sein Ziel, er wurde immer unabhängiger, niemand hatte ihm zu befehlen, nach niemandem hatte er sich zu richten, frei und allein bestimmte er über sein Tun und Lassen. Denn jeder starke Mensch erreicht unfehlbar das, was ein wirklicher Trieb ihn suchen heißt. Aber mitten in der erreichten Freiheit nahm Harry plötzlich wahr, daß seine Freiheit ein Tod war, daß er allein stand, daß die Welt ihn auf eine unheimliche Weise in Ruhe ließ, daß die Menschen ihn nichts mehr angingen, ja er selbst nicht, daß er in einer dünner und dünner werdenden Luft von Beziehungslosigkeit und Vereinsamung langsam erstickte.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

62. Intensiv leben kann man nur auf Kosten des Ichs. Der Bürger nun schätzt nichts höher als das Ich (ein nur rudimentär entwickeltes Ich allerdings). Auf Kosten der Intensität also erreicht er die Erhaltung und Sicherheit, statt Gottbesessenheit erntet er Gewissensruhe, statt Lust Behagen, statt Freiheit Bequemlichkeit, statt tödlicher Glut eine angenehme Temperatur. Der Bürger ist deshalb seinem Wesen nach ein Geschöpf von schwachem Lebensantrieb, ängstlich, jede Preisgabe seiner selbst fürchtend, leicht zu regieren. Er hat darum an die Stelle der Macht die Majorität gesetzt, an die Stelle der Gewalt das Gesetz, an die Stelle der Verantwortung das Abstimmungsverfahren.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

Im Altwerden

Jung sein und Gutes tun ist leicht,
Und von allem Gemeinen entfernt sein;
Aber lächeln, wenn schon der Herzschlag schleicht,
Das will gelernt sein.
Und wem’s gelingt, der ist nicht alt,
Der steht noch hell in Flammen
Und biegt mit seiner Faust Gewalt
Die Pole der Welt zusammen.

Weil wir den Tod dort warten sehn,
Laß uns nicht stehen bleiben.
Wir wollen ihm entgegengehn,
Wir wollen ihn vertreiben.
Der Tod ist weder dort noch hier,
Er steht auf allen Pfaden.
Er ist in dir und ist in mir,
Sobald wir das Leben verraten.

(Hermann Hesse)

 

63. Der Mensch ist des Denkens nicht in hohem Maße fähig, und auch noch der geistigste und gebildetste Mensch sieht die Welt und sich selbst beständig durch die Brille sehr naiver, vereinfachender und umlügender Formeln an – am meisten aber sich selbst!

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

64. Wenn ein Mädchen du zu dir sagt und sie dir nicht zuwider ist, dann sagst du auch du zu ihr.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

Welkes Blatt

 

Jede Blüte will zur Frucht,

jeder Morgen Abend werden,

ewiges ist nicht auf Erden

als der Wandel, als die Flucht.

Auch der schönste Sommer

will einmal Herbst und Welke spüren.

Halte, Blatt, geduldig still,

wenn der Wind dich will entführen.

Spiel dein Spiel und wehr dich nicht,

laß es still geschehen.

Laß vom Winde, der dich bricht,

dich nach Hause wehen.

(Hermann Hesse)

 

65. Plötzlich ein Mensch, ein lebendiger Mensch, der die trübe Glasglocke meiner Abgestorbenheit zerschlug und mir die Hand hereinstreckte, eine gute, schöne, warme Hand! Plötzlich wieder Dinge, die mich etwas angingen, an die ich mit Freude, mit Sorge, mit Spannung denken konnte! Plötzlich eine Türe offen, durch die das Leben zu mir hereinkam! Ich konnte vielleicht wieder leben, ich konnte vielleicht wieder ein Mensch werden.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

66. Sie war das kleine Fensterchen, das winzige lichte Loch in meiner finstern Angsthöhle. Sie war die Erlösung, der Weg ins Freie. Sie mußte mich leben lehren oder sterben lehren, sie mit ihrer festen und hübschen Hand mußte mein erstarrtes Herz antasten, damit es unter der Berührung des Lebens entweder aufblühe oder in Asche zerfalle.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

Knarren eines geknickten Astes

Splittrig geknickter Ast,
Hangend schon Jahr um Jahr,
Trocken knarrt er im Wind sein Lied,
Ohne Laub, ohne Rinde,
Kahl, fahl, zu langen Lebens,
Zu langen Sterbens müd.
Hart klingt und zäh sein Gesang,
Klingt trotzig, klingt heimlich bang
Noch einen Sommer,
Noch einen Winter lang.

(Hermann Hesse)

 

67. Aber wenn du zu deinem Vergnügen erst die Erlaubnis anderer Leute brauchst, dann bist du wirklich ein armen Tropf.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

68. Mochte das nun hohe Weisheit sein oder einfachste Naivität: wer so dem Augenblick zu leben verstand, wer so gegenwärtig lebte und so freundlich-sorgsam jede kleine Blume am Weg, jeden kleinen spielerischen Augenblickswert zu schätzen wußte, dem konnte das Leben nichts anhaben.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

69. Das Ausgelachtwerden riskiert ein jeder, der sich einem Mädchen nähert; das ist der Einsatz. Also riskiere, und im schlimmsten Fall laß dich eben auslachen.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

70. Ja, es sind eben gar zu viele Menschen auf der Welt. Früher merkte man es nicht so. Aber jetzt, wo jeder nicht bloß Luft atmen, sondern auch ein Auto haben will, jetzt merkt man es eben.

– Hermann Hesse, Der Steppenwolf

 

Voll Blüten …

Voll Blüten steht der Pfirsichbaum,
Nicht jede wird zur Frucht,
Sie schimmern hell wie Rosenschaum
Durch Blau und Wolkenflucht.

Wie Blüten geh’n Gedanken auf,
Hundert an jedem Tag. –
Laß blühen, laß dem Ding den Lauf!
Frag nicht nach dem Ertrag!

Es muß auch Spiel und Unschuld sein
Und Blütenüberfluß,
Sonst wär‘ die Welt uns viel zu klein
Und Leben kein Genuß.

(Hermann Hesse)

 

71. Einsam ist, wer die Schönheit zu erleben und von ihr zu sagen weiß. Es ist die Einsamkeit des Berufenen, er darf die Kinderwelt und das Kinderleben der andern nicht teilen. Dafür hört er die Stimmen, die jene nie hören. Und außerdem gibt es für seine Einsamkeit, wie für jede, die Lösung und Erlösung: Das Erkennen des Einen und Ganzen hinter allen Vereinzelungen.

– Hermann Hesse, Brief von 1947

 

72. Ich lag im offenen Fenster und schaute dem Wasser zu, das ebenso unaufhaltsam und ebenso gleichmäßig und eintönig und gleichgültig der Nacht und Ferne entgegenfloß, wie mir die öden Tage dahinrannen, von denen jeder köstlich und unverlierbar wertvoll hätte sein können und sein sollen und von denen doch einer wie der andere ohne Wert und ohne Andenken unterging.

– Hermann Hesse, Fragment aus der Jugendzeit

 

73. Bei Nacht im Freien unterwegs zu sein, unter dem schweigenden Himmel, an einem still strömenden Gewässer, das ist stets geheimnisvoll und regt die Gründe der Seele auf.

– Hermann Hesse, Schön ist die Jugend

 

74. Mag man im übrigen die Frauen hochschätzen oder nicht, als Hüterinnen und Bewahrerinnen der Kindheit haben sie ihr heiliges Amt, in dem niemand sie ersetzen kann.

– Hermann Hesse, Berthold

 

75. Aber die Logik, die Gerechtigkeit und alle diese scheinbar gesetzmäßigen und tadellosen Dinge sind Erfindungen der Menschen und kommen in der Natur nicht vor.

– Hermann Hesse, Berthold

 

76. Weh tut es ja immer noch, das ist nicht zu leugnen. Aber so soll es denn in Gottes Namen weh tun; ich überlasse die Krankheit sich selber, ich bin nicht dazu da, ihr den ganzen Tag den Hof zu machen.

– Hermann Hesse, Kurgast

 

77. Ich fühle die Einsamkeit wie einen gefrorenen See um mich her, ich fühle die Schande und Torheit dieses Lebens, ich fühle den Schmerz um die verlorene Jugend grimmig flammen. Es tut weh, freilich, aber es ist doch Schmerz, es ist doch Scham, es ist doch Qual, es ist doch Leben, Denken, Bewußtsein.

– Hermann Hesse, Taedium vitae

 

Wir Leben Hin…

 

Wir leben hin in Form und Schein Und ahnen nur in Leidenstagen

Das ewig wandellose Sein, Von dem uns dunkle Träume sagen.

Wir freuen uns an Trug und Schein Wir gleichen führerlosen Blinden

Wir suchen bang in Zeit und Raum Was nur im Ewigen zu finden

Erlösung hoffen wir und Heil In wesenlosen Traumesgaben

Da wir doch Götter sind und teil Am Urbeginn der Schöpfung haben.

 

Er hielt sich, wie jeder Mensch, für eine Persönlichkeit, während er nur ein Exemplar war, und sah in sich, in seinem Schicksal den Mittelpunkt der Welt, wie ein jeder Mensch es tut.

(Hermann Hesse, Ein Mensch mit Namen Ziegler)

 

78. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.

– Hermann Hesse, Ein Mensch mit Namen Ziegler

 

79. Ja, es war besser, selber zu steuern und dabei in Scherben zu gehen, als immer von einem andern gefahren und gelenkt zu werden.

– Hermann Hesse, Klein und Wagner

 

80. Wenn man darüber redet, wird auch das Einfachste gleich kompliziert und unverständlich.

– Hermann Hesse, Klein und Wagner

 

81. Die ganze Kunst war: sich fallen lassen (…) Hatte man das einmal getan, hatte man einmal sich dahingegeben, sich anheimgestellt, sich ergeben, hatte man einmal auf alle Stützen und jeden festen Boden unter sich verzichtet, hörte man ganz und gar nur noch auf den Führer im eigenen Herzen, dann war alles gewonnen, dann war alles gut, keine Angst mehr, keine Gefahr mehr.

– Hermann Hesse, Klein und Wagner

 

82. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt lieben kann. Ich kann begehren und kann mich in andern Menschen suchen, nach Echo aushorchen, nach einem Spiegel verlangen, und alles das kann wie Liebe aussehen.

– Hermann Hesse, Klingsors letzter Sommer

 

83. Wünsche sollte man sich stets erfüllen. Denn sehen Sie: damit sind sie erledigt. Und was erledigt ist, das plagt uns nicht mehr.

– Hermann Hesse, Jenseits der Mauer

 

84. Es gibt tausend Wege für einen jeden, tausend Möglichkeiten der Geburt, der Wandlung, der Wiederkehr.

– Hermann Hesse, Herr Claassen

 

 

„Entweder ein Dichter oder gar nichts“

 

Kurzgefasster Lebenslauf

Hermann Hesse über sich selbst …

 

Ich wurde geboren gegen das Ende der Neuzeit, kurz vor der beginnenden Wiederkehr des Mittelalters, im Zeichen des Schützen und von Jupiter freundlich bestrahlt.

Meine Geburt geschah in früher Abendstunde an einem warmen Tag im Juli, und die Temperatur jener Stunde ist es, welche ich unbewußt mein Leben lang geliebt und gesucht und, wenn sie fehlte, schmerzlich entbehrt habe. Nie konnte ich in kalten Ländern leben, und alle freiwilligen Reisen meines Lebens waren nach Süden gerichtet. Ich war das Kind frommer Eltern, welche ich zärtlich liebte und noch zärtlicher geliebt hätte, wenn man mich nicht schon frühzeitig mit dem vierten Gebote bekannt gemacht hätte.

Gebote aber haben leider stets eine fatale Wirkung auf mich gehabt, mochten sie noch so richtig und noch so gut gemeint sein – ich, der ich von Natur ein Lamm und lenksam bin wie eine Seifenblase, habe mich gegen Gebote jeder Art, zumal während meiner Jugendzeit, stets widerspenstig verhalten. Ich brauchte nur das „Du sollst“ zu hören, so wendete sich alles in mir um, und ich  wurde verstockt. Man kann sich denken, daß diese Eigenheit von großem und nachteiligem Einfluß auf meine Schuljahre geworden ist.

Unsre Lehrer lehrten uns zwar in jenem amüsanten Lehrfach, das sie Weltgeschichte nannten, daß stets die Welt von solchen Menschen regiert und gelenkt und verändert worden war, welche sich ihr eigenes Gesetz  gaben und mit den überkommenen Gesetzen brachen, und es wurde uns gesagt, daß diese Menschen verehrungswürdig seien. Allein dies war ebenso gelogen wie der ganze übrige Unterricht, denn wenn einer von uns, sei es nun in guter oder böser Meinung, einmal Mut zeigte und gegen irgendein Gebot, oder auch bloß gegen eine dumme Gewohnheit oder Mode protestierte, dann wurde er weder verehrt noch uns zum Vorbild empfohlen, sondern bestraft, verhöhnt und von der feigen Übermacht der Lehrer erdrückt.

Zum Glück hatte ich das fürs Leben Wichtige und Wertvollste schon vor dem Beginn der Schuljahre gelernt: ich hatte wache, zarte und feine Sinne, auf die ich mich verlassen und aus denen ich viel Genuß ziehen konnte, und wenn ich auch später den Verlockungen der Metaphysik unheilbar erlag und sogar meine Sinne zuzeiten kasteit und vernachlässigt habe, ist doch die Atmosphäre einer zart ausgebildeten Sinnlichkeit, namentlich was Gesicht und Gehör betrifft, mir stets treu geblieben und spielt in meine Gedankenwelt, auch wo sie abstrakt scheint, lebendig mit hinein.

Ich hatte also ein gewisses Rüstzeug fürs Leben, wie gesagt, mir längst schon vor dem Beginn der Schuljahre erworben. Ich wußte Bescheid in unsrer Vaterstadt, in den Hühnerhöfen und in den Wäldern, in den Obstgärten und in den Werkstätten der Handwerker, ich kannte die Bäume, Vögel und Schmetterlinge, konnte Lieder singen und durch die Zähne pfeifen, und sonst noch manches, was fürs Leben von Wert ist. Dazu kamen nun also die Schulwissenschaften hinzu, die mir leichtfielen und Spaß machten, namentlich fand ich ein wahres Vergnügen an der lateinischen Sprache und habe beinahe ebenso früh lateinische wie deutsche Verse gemacht.

Die Kunst des Lügens und der Diplomatie verdanke ich dem zweiten Schuljahre, wo ein Präzeptor und ein Kollaborator mich in den Besitz dieser Fähigkeiten brachten, nachdem ich vorher in meiner kindlichen Offenheit und Vertrauensseligkeit ein Unglück ums andere über mich gebracht hatte. Diese beiden Erzieher klärten mich erfolgreich darüber auf, daß Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe Eigenschaften waren, welche sie bei Schülern nicht suchten. Sie schrieben mir eine Untat zu, eine recht unbedeutende, die in der Klasse passiert war und an der ich völlig unschuldig war, und da sie mich nicht dazu bringen konnten, mich als Täter zu bekennen, wurde aus der Kleinigkeit ein Staatsprozeß, und die beiden folterten und prügelten mir zwar nicht das erhoffte Geständnis, wohl aber jeden Glauben an die Anständigkeit der Lehrerkaste aus. Zwar lernte ich, Gott sei Dank, mit der Zeit auch rechte und der Hochachtung würdige Lehrer kennen, aber der Schaden war geschehen und nicht nur mein Verhältnis zu den Schulmeistern, sondern auch das zu aller Autorität war verfälscht und verbittert.

Im ganzen war ich in den sieben oder acht ersten Schuljahren ein guter Schüler, wenigstens saß ich stets unter den Ersten meiner Klasse. Erst mit dem Beginn jener Kämpfe, welche keinem erspart bleiben, der eine Persönlichkeit werden soll, kam ich mehr und mehr auch mit der Schule in Konflikt. Verstanden habe ich jene Kämpfe erst zwei Jahrzehnte später, damals waren sie einfach da und umgaben mich, wider meinen Willen, als ein furchtbares Unglück.

Die Sache war so: von meinem dreizehnten Jahr an war mir das eine klar, daß ich entweder ein Dichter oder gar nichts werden wolle. Zu dieser Klarheit kam aber allmählich eine andre, peinliche Einsicht. Man konnte Lehrer, Pfarrer, Arzt, Handwerker, Kaufmann, Postbeamter werden, auch Musiker, auch Maler oder Architekt, zu allen Berufen der Welt gab es einen Weg, gab es Vorbedingungen, gab es eine Schule, einen Unterricht für den Anfänger. Bloß für den Dichter gab es das nicht! Es war erlaubt und galt sogar für eine Ehre, ein Dichter zu sein: das heißt als Dichter erfolgreich und bekannt zu sein, meistens war man leider dann schon tot. Ein Dichter zu werden aber, das war unmöglich, es werden zu wollen, war eine Lächerlichkeit und Schande, wie ich sehr bald erfuhr. Rasch hatte ich gelernt, was aus der Situation zu lernen war: Dichter war etwas, was man bloß sein, nicht aber werden durfte.

Ferner: Interesse für Dichtung und eigenes dichterisches Talent machte bei den Lehrern verdächtig, man wurde dafür entweder beargwöhnt oder verspottet, oft sogar tödlich beleidigt. Es war mit dem Dichter genau so wie es mit dem Helden war, und mit allen starken oder schönen, hochgemuten und nicht alltäglichen Gestalten und Bestrebungen: in der Vergangenheit waren sie herrlich, alle Schulbücher standen voll ihres Lobes, in der Gegenwart und Wirklichkeit aber haßte man sie, und vermutlich waren die Lehrer gerade dazu angestellt und ausgebildet, um das Heranwachsen von famosen, freien Menschen und das Geschehen von großen, prächtigen Taten nach Möglichkeit zu verhindern. So sah ich zwischen mir und meinem fernen Ziel nichts als Abgründe liegen, alles wurde mir ungewiß, alles entwertet, nur das eine blieb stehen: daß ich Dichter werden wollte, ob es nun leicht oder schwer, lächerlich oder ehrenvoll sein mochte. Die äußern Erfolge dieses

Entschlusses – vielmehr dieses Verhängnisses – waren folgende:

Als ich dreizehn Jahre alt war, und jener Konflikt eben begonnen hatte, ließ mein Verhalten sowohl im Elternhause wie in der Schule so viel zu wünschen übrig, daß man mich in die Lateinschule einer andern Stadt in die Verbannung schickte. Ein Jahr später wurde ich Zögling eines theologischen Seminars, lernte das hebräische Alphabet schreiben und war schon nahe daran zu begreifen, was ein Dagesch forte implicitum ist, als plötzlich von innen her Stürme über mich hereinbrachen, welche zu meiner Flucht aus der Klosterschule, zu einer Bestrafung mit schwerem Karzer und zu meinem Abschied aus dem Seminar führten.

Eine Weile bemühte ich mich dann an einem Gymnasium, meine Studien vorwärtszubringen, allein Karzer und Verabschiedung war auch dort das Ende. Dann war ich drei Tage Kaufmannslehrling, lief wieder fort und war einige Tage und Nächte zur großen Sorge meiner Eltern verschwunden. Ich war ein halbes Jahr lang Gehilfe meines Vaters, ich war anderthalb Jahre lang Praktikant in einer mechanischen Werkstätte und Turmuhrenfabrik. Kurz, mehr als vier Jahre lang ging alles unweigerlich schief, was man mit mir unternehmen wollte, keine Schule wollte mich behalten, in keiner Lehre hielt ich lange aus. jeder Versuch, einen brauchbaren Menschen aus mir zu machen, endete mit Mißerfolg, mehrmals mit Schande und Skandal, mit Flucht oder mit Ausweisung, und doch gestand man mir überall eine gute Begabung und sogar ein gewisses Maß von redlichem Willen zu!

Auch war ich stets leidlich fleißig – die hohe Tugend des Müßiggangs habe ich immer mit Ehrfurcht bewundert, aber ich bin nie ein Meister in ihr geworden. Ich begann mit fünfzehn Jahren, als es mir in der Schule mißglückt war, bewußt und energisch meine eigene Ausbildung, und es war mein Glück und meine Wonne, daß im Hause meines Vaters die gewaltige großväterliche Bibliothek stand, ein ganzer Saal voll alter Bücher, der unter andrem die ganze deutsche Dichtung und Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts enthielt. Zwischen meinem sechzehnten und zwanzigsten Jahre habe ich nicht bloß eine Menge Papier mit meinen ersten Dichterversuchen vollgeschrieben, sondern habe in jenen Jahren auch die halbe Weltliteratur gelesen und mich mit Kunstgeschichte, Sprachen, Philosophie mit einer Zähigkeit bemüht, welche reichlich für ein normales Studium genügt hätte. Dann wurde ich Buchhändler, um endlich einmal mein Brot selber verdienen zu können.

Zu den Büchern hatte ich immerhin mehr und bessere Beziehungen als zum Schraubstock und den Zahnrädern aus Eisenguß, mit denen ich mich als Mechaniker geplagt hatte. Für die erste Zeit war mir das Schwimmen im Neuen und Neuesten der Literatur, ja das Überschwemmtwerden damit, ein beinah rauschähnliches Vergnügen. Doch merkte ich freilich nach einer Weile, daß im Geistigen ein Leben in der bloßen Gegenwart, im Neuen und Neuesten unerträglich und unsinnig, daß die beständige Beziehung zum Gewesenen, zur Geschichte, zum Alten und Uralten ein geistiges Leben Oberhaupt erst ermögliche. So war es mir denn, nachdem jenes erste Vergnügen erschöpft war, ein Bedürfnis, aus der Überschwemmung mit Novitäten zum Alten zurückzukehren, ich vollzog das, indem ich aus dem Buchhandel ins Antiquariat überging. Ich blieb dem Beruf jedoch nur so lang treu, als ich ihn brauchte, Leerzeile entfernen! um das Leben zu fristen. Im Alter von sechsundzwanzig Jahren, auf Grund eines ersten literarischen Erfolges‘, gab ich auch diesen Beruf wieder auf.

Jetzt also war, unter so vielen Stürmen und Opfern, mein Ziel erreicht: ich war, so unmöglich es geschienen hatte, doch ein Dichter geworden und hatte, wie es schien, den langen zähen Kampf mit der Welt gewonnen. Die Bitternis der Schul- und Werdejahre, in der ich oft sehr nah am Untergang gewesen war, wurde nun vergessen und belächelt – auch die Angehörigen und Freunde, die bisher an mir verzweifelt waren, lächelten mir jetzt freundlich zu. Ich hatte gesiegt, und wenn ich nun das Dümmste und Wertloseste tat, fand man es entzückend, wie auch ich selbst sehr von mir entzückt war.

Erst jetzt bemerkte ich, in wie schauerlicher Vereinsamung, Askese und Gefahr ich Jahr um Jahr gelebt hatte, die laue Luft der Anerkennung tat mir wohl, und ich begann ein zufriedener Mann zu werden. Mein äußeres Leben verlief nun eine gute Weile ruhig und angenehm. Ich hatte Frau, Kinder, Haus und Garten. Ich schrieb meine Bücher, ich galt für einen liebenswürdigen Dichter und lebte mit der Welt in Frieden. Im Jahre 1905 half ich eine Zeitschrift begründen, welche vor allem gegen das persönliche Regiment Wilhelms des Zweiten gerichtet war, ohne daß ich doch im Grunde diese politischen Ziele ernst genommen hätte. Ich machte schöne Reisen in der Schweiz, in Deutschland, in Österreich, in Italien, in Indien. Alles schien in Ordnung zu sein.

Da kam jener Sommer 1914, und plötzlich sah es innen und außen ganz verwandelt aus. Es zeigte sich, daß unser bisheriges Wohlergeben auf unsicherem Boden gestanden war, und nun begann also das Schlechtgehen, die große Erziehung. Die sogenannte große Zeit war angebrochen, und ich kann nicht sagen, daß sie mich gerüsteter, würdiger und besser angetroffen hätte als alle andern auch. Was mich von den andern damals unterschied, war nur, daß ich jenes einen großen Trostes entbehrte, den so viele andere hatten: der Begeisterung. Dadurch kam ich wieder zu mir selbst und in Konflikt mit der Umwelt, ich wurde nochmals in die Schule genommen, mußte nochmals die Zufriedenheit mit mir selbst und mit der Welt verlernen, und trat erst mit diesem Erlebnis über die Schwelle der Einweihung ins Leben.

Ich habe ein kleines Erlebnis des ersten Kriegsjahres nie vergessen. Ich war zu Besuch in einem großen Lazarett, auf der Suche nach einer Möglichkeit, mich irgendwie als Freiwilliger sinnvoll in die veränderte Welt einzupassen, was mir damals noch möglich schien. In jenem Verwundetenspital lernte ich ein altes Fräulein kennen, das früher in guten Verhältnissen privatistert hatte und jetzt in diesem Lazarett Pflegerinnendienste tat. Sie erzählte mir in rührender Begeisterung, wie froh und stolz sie sei, daß sie diese große Zeit noch habe erleben dürfen. Ich fand es begreiflich, denn für diese Dame hatte es des Krieges bedurft, um aus ihrem trägen und rein egoistischen Altjungfernleben ein tätiges und wertvolleres Leben zu machen. Aber als sie mir ihr Glück mitteilte, in einem Korridor voll verbundener und krummgeschossener Soldaten, zwischen Sälen, die voll von Amputierten und Sterbenden lagen, da drehte sich mir das Herz um. So sehr ich die Begeisterung dieser Tante begriff, ich konnte sie nicht teilen, ich konnte sie nicht gutheißen. Wenn auf je zehn Verwundete eine solche begeisterte Pflegerin kam, dann war das Glück dieser Damen etwas teuer bezahlt.

Nein, ich konnte die Freude über die große Zeit nicht teilen, und so kam es, daß ich unter dem Kriege von Anfang an jämmerlich litt, und jahrelang mich gegen ein scheinbar von außen und aus heiterm Himmel hereingebrochenes Unglück verzweifelt wehrte, während um mich her alle Welt so tat, als sei sie voll froher Begeisterung über eben dies Unglück. Und wenn ich nun die Zeitungsartikel der Dichter las, worin sie den Segen des Krieges entdeckten, und die Aufrufe der Professoren, und alle die Kriegsgedichte aus den Studierzimmern der berühmten Dichter, dann wurde mir noch elender.

Im Jahr 1915 entschlüpfte mir eines Tages öffentlich das Bekenntnis dieses Elendes, und ein Wort des Bedauerns darüber, daß auch die sogenannten geistigen Menschen nichts anderes zu tun wüßten, als Haß zu predigen, Lügen zu verbreiten und das große Unglück hochzupreisen. Die Folge dieser ziemlich schüchtern geäußerten Klage war, daß ich in der Presse meines Vaterlandes für einen Verräter erklärt wurde – für mich ein neues Erlebnis, denn trotz vielen Berührungen mit der Presse hatte ich die Situation des von der Mehrheit Angespienen noch nie kennengelernt. Der Artikel mit jener Anklage wurde von zwanzig Zeitungen meiner Heimat abgedruckt, und von allen meinen Freunden, deren ich bei der Presse viele zu haben glaubte, wagten es nur zwei, für mich einzutreten. Alte Freunde teilten mir mit, daß sie eine Schlange an ihrem Busen genährt hätten, und daß dieser Busen künftig nur noch für Kaiser und Reich, nicht aber mehr für mich Entarteten schlage. Schmähbriefe von Unbekannten kamen in Menge, und Buchhändler ließen mich wissen, daß ein Autor von so verwerflichen Gesinnungen für sie nicht mehr existiere.

Auf mehreren dieser Briefe lernte ich ein Schmuckstück kennen, das ich damals zum ersten Male sah: einen kleinen runden Stempelaufdruck mit der Inschrift: Gott strafe England. Man sollte denken, ich hätte über dies Mißverständnis recht sehr gelacht. Aber das gelang mir nicht. Dies an sich so unwichtige Erlebnis brachte mir als Frucht die zweite große Wandlung meines Lebens.

Man erinnere sich: die erste Wandlung war eingetreten in dem Augenblick, wo mir der Entschluß bewußt wurde, ein Dichter zu werden. Der vorherige Musterschüler Hesse wurde von da an ein schlechter Schüler, er wurde bestraft, er wurde hinausgeworfen, er tat nirgends gut, machte sich und seinen Eltern Sorge um Sorge – alles nur, weil er zwischen der Welt, wie sie nun einmal ist oder zu sein scheint, und der Stimme seines eigenen Herzens keine Möglichkeit einer Versöhnung sah. Dies wiederholte sich jetzt, in den Kriegsjahren, aufs neue.

Wieder sah ich mich im Konflikt mit einer Welt, mit der ich bisher in gutem Frieden gelebt hatte. Wieder mißglückte mir alles, wieder war ich allein und elend, wieder wurde alles, was ich sagte und dachte, von den andern feindlich mißverstanden. Wieder sah ich zwischen der Wirklichkeit und dem, was mir wünschenswert, vernünftig und gut schien, einen hoffnungslosen Abgrund liegen.

Diesmal aber blieb mir die Einkehr nicht erspart. Es dauerte nicht lange, so sah ich mich genötigt, die Schuld an meinen Leiden nicht außer mir, sondern in mir selbst zu suchen.

Denn das sah ich wohl ein: der ganzen Welt Wahnsinn und Roheit vorzuwerfen, dazu hatte kein Mensch und kein Gott ein Recht, ich am wenigsten, Es mußte also in mir selbst allerlei Unordnung sein, wenn ich so mit dem ganzen Weltlauf in Konflikt kam. Und siehe, es war in der Tat eine große Unordnung da. Es war kein Vergnügen, diese Unordnung in mir selber anzupacken und ihre Ordnung zu versuchen. Da zeigte sich vor allem eines: der gute Friede, in dem ich mit der Welt gelebt hatte, war nicht nur von mir zu teuer bezahlt worden, er war auch ebenso faul gewesen wie der äußere Friede in der Welt. Ich hatte geglaubt, mir durch die langen schweren Kämpfe der Jugend meinen Platz in der Welt verdient zu haben und nun ein Dichter zu sein, Mittlerweile aber hatte Erfolg und Wohlergehen auf mich den üblichen Einfluß gehabt, ich war zufrieden und bequem geworden, und wenn ich genau zusah, so war der Dichter von einem Unterhaltungsschriftsteller kaum zu unterscheiden. Es war mir zu gut gegangen.

Nun, für das Schlechtgehen, das stets eine gute und energische Schule ist, war jetzt reichlich gesorgt, und so lernte ich mehr und mehr die Händel der Welt ihren Gang gehen zu lassen, und konnte mich mit meinem eigenen Anteil an der Verwirrung und Schuld des Ganzen beschäftigen. Diese Beschäftigung aus meinen Schriften herauszulesen, muß ich dem Leser überlassen. Und noch immer habe ich die heimliche Hoffnung, es werde mit der Zeit auch mein Volk, nicht als Ganzes, aber in sehr vielen wachen und verantwortlichen Einzelnen, eine ähnliche Prüfung vollziehen und an die Stelle des Klagens und Schimpfens über den bösen Krieg und die bösen Feinde und die böse Revolution in tausend Herzen die Frage setzen: wie bin ich selber mitschuldig geworden? Und wie kann ich wieder unschuldig werden? Denn man kann jederzeit wieder unschuldig werden, wenn man sein Leid und seine Schuld erkennt und zu Ende leidet, statt die Schuld daran bei andern zu suchen.

Als die neue Wandlung sich in meinen Schriften und in meinem Leben zu äußern anfing, schüttelten viele meiner Freunde den Kopf. Viele verließen mich auch. Das gehörte zu dem  veränderten Bilde meines Lebens, ebenso wie der Verlust meines Hauses, meiner Familie und andrer Güter und Behaglichkeiten. Es war eine Zeit, da ich täglich Abschied nahm, und täglich darüber erstaunt war, daß ich nun auch dies hatte ertragen können, und noch immer lebte, und noch immer irgend etwas an diesem seltsamen Leben liebte, das mir doch nur Schmerzen, Enttäuschungen und Verluste zu bringen schien.

Übrigens, um dies nachzuholen: auch während der Kriegsjahre hatte ich etwas wie einen guten Stern oder einen Schutzengel. Während ich mich mit meinen Leiden sehr allein fühlte und bis zum Beginn der Wandlung, mein Schicksal stündlich als ein unseliges empfand und verwünschte, diente eben mein Leiden, mein Besessensein durch Leiden mir als Schutz und Panzer gegen die Außenwelt. Ich brachte nämlich die Kriegsjahre in einer so scheußlichen  Umgebung von Politik, Spionagewesen, Bestechungstechnik und Konjunkturkünsten zu, wie sie selbst damals nur an wenigen Orten der Erde so konzentriert beieinander zu finden waren, nämlich in Bern inmitten deutscher, neutraler und feindlicher Diplomatie, in einer Stadt, die über Nacht übervölkert worden war, und zwar durch lauter Diplomaten, politische Agenten, Spione, Journalisten, Aufkäufer und Schieber. Ich lebte zwischen Diplomaten und Militärs, verkehrte außerdem mit Menschen aus vielen, auch feindlichen Nationen, die Luft um mich her war ein einziges Netz von Spionage und Gegenspionage, von Spitzelei, Intrigen, politischen und persönlichen Geschäftigkeiten und von alledem habe ich in all den Jahren gar nichts bemerkt!

Ich wurde ausgehorcht, bespitzelt und bespioniert, war bald den Feinden, bald den Neutralen, bald den eigenen Landsleuten verdächtig, und merkte das alles nicht, erst lange nachher erfuhr ich dies und jenes davon, und begriff nicht, wie ich unberührt und ungeschädigt inmitten dieser Atmosphäre hatte leben können. Aber es war gegangen.

Mit dem Ende des Krieges fiel auch die Vollendung meiner Wandlung und die Höhe der Prüfungsleiden zusammen.

Diese Leiden hatten mit dem Kriege und dem Weltschicksal nichts mehr zu tun, auch die Niederlage Deutschlands, von uns im Auslande seit zwei Jahren mit Sicherheit erwartet, hatte im Augenblick nichts Erschreckendes mehr. Ich war ganz in mich selbst und ins eigene Schicksal versunken, allerdings zuweilen mit dem Gefühl, es handle sich dabei um alles Menschenlos Oberhaupt. Ich fand allen Krieg und alle Mordlust der Welt, all ihren Leichtsinn, all ihre rohe Genußsucht, all ihre Feigheit in mir selber wieder, hatte erst die Achtung vor mir selbst, dann die Verachtung meiner selbst zu verlieren, hatte nichts andres zu tun, als den Blick ins Chaos zu Ende zu tun, mit der oft aufglühenden, oft erlösenden Hoffnung, jenseits des Chaos wieder Natur, wieder Unschuld zu finden. Jeder wach gewordene und wirklich zum Bewußtsein gekommene Mensch geht ja einmal, oder mehrmals diesen schmalen Weg durch die Wüste – den andern davon reden zu wollen, wäre vergebliche Mühe.

Wenn Freunde mir untreu wurden, empfand ich manchmal Wehmut, doch kein Unbehagen, ich empfand es mehr als Bestätigung auf meinem Wege. Diese früheren Freunde hatten ja ganz recht, wenn sie sagten, ich sei früher ein so sympathischer Mensch und Dichter gewesen, während meine jetzige Problematik einfach ungenießbar sei. Über Fragen des Geschmacks, oder des Charakters, war ich damals längst hinaus, es war niemand da, dem meine Sprache verständlich gewesen wäre. Diese Freunde hatten vielleicht recht, wenn sie mir vorwarfen, meine Schriften hätten Schönheit und Harmonie verloren. Solche Worte machten mich nur lachen – was ist Schönheit oder Harmonie für den, der zum Tode verurteilt ist, der zwischen einstürzenden Mauern um sein Leben rennt?

Vielleicht war ich auch, meinem lebenslangen Glauben entgegen, gar kein Dichter, und der ganze ästhetische Betrieb war bloß ein Irrtum gewesen? Warum nicht, auch das war nicht mehr von Wichtigkeit. Das meiste von dem, was ich auf der Höllenreise durch mich selbst zu Gesicht bekommen hatte, war Schwindel und wertlos gewesen, also vielleicht auch der Wahn von meiner Berufung oder Begabung. Wie wenig wichtig war das doch! Und das, was ich voll Eitelkeit und Kinderfreude einst als meine Aufgabe betrachtet hatte, war auch nicht mehr da. Ich sah meine Aufgabe, vielmehr meinen Weg zur Rettung, längst nicht mehr auf dem Gebiet der Lyrik, oder der Philosophie, oder irgendeiner solchen Spezialistengeschichte, sondern nur noch darin, das wenige wahrhaft Lebendige und Starke in mir sein Leben leben zu lassen, nur noch in der unbedingten Treue gegen das, was ich in mir noch leben spürte. Das war das Leben, das war Gott. – Nachher, wenn solche Zeiten hoher und lebensgefährlicher Spannung vorüber sind, sieht das alles seltsam anders aus, weil die damaligen Inhalte und ihre Namen jetzt ohne Bedeutung sind, und das Heilige von vorgestern kann beinah komisch klingen.

Als auch für mich der Krieg endlich zu Ende war, im Frühling 1919, zog ich mich in eine entlegene Ecke der Schweiz zurück und wurde Einsiedler. Weil ich mein Leben lang (dies war eine Erbschaft von Eltern und Großeltern her) sehr viel mit indischer und chinesischer Weisheit beschäftigt war, und auch meine neuen Erlebnisse zum Teil in der östlichen Bildersprache zum Ausdruck brachte, nannte man mich häufig einen “Buddhisten“, worüber ich nur lachen konnte, denn im Grunde wußte ich mich von keinem Bekenntnis weiter entfernt als von diesem. Und dennoch war etwas Richtiges, ein Korn Wahrheit darin verborgen, das ich erst etwas später erkannte.

Wenn es irgend denkbar wäre, daß ein Mensch sich persönlich eine Religion erwählte, so hätte ich aus innerster Sehnsucht gewiß mich einer konservativen Religion angeschlossen: dem Konfuzius, dem Brahmanismus oder der römischen Kirche. Ich hätte dies aber aus Sehnsucht nach dem Gegenpol getan, nicht aus angeborner Verwandtschaft, denn geboren bin ich nicht nur zufällig als Sohn frommer Protestanten, sondern bin auch dem Gemüt und Wesen nach Protestant (wozu meine tiefe Antipathie gegen die zur Zeit vorhandenen protestantischen Bekenntnisse durchaus keinen Widerspruch bildet). Denn der echte Protestant wehrt sich gegen die eigene Kirche wie gegen jede andere, weil sein Wesen ihn das Werden mehr bejahen heißt als das Sein. Und in diesem Sinne ist wohl auch Buddha ein Protestant gewesen.

Der Glaube an mein Dichtertum und an den Wert meiner literarischen Arbeit war also seit der Wandlung in mir entwurzelt. Das Schreiben machte mir keine rechte Freude mehr. Eine Freude aber muß der Mensch haben, auch ich in all meiner Not machte diesen Anspruch. Ich konnte auf Gerechtigkeit, Vernunft, auf Sinn im Leben und in der Welt verzichten, ich hatte gesehen, daß die Welt vortrefflich ohne all diese Abstraktionen auskommt – aber auf ein wenig Freude konnte ich nicht verzichten, und das Verlangen nach diesem bisschen Freude, das war nun eine von jenen kleinen Flammen in mir, an die ich noch glaubte und aus denen ich mir die Welt wieder neu zu schaffen dachte.

Häufig suchte ich meine Freude, meinen Traum, mein Vergessen in einer Flasche Wein, und sehr oft hat sie mir geholfen, sie sei dafür gepriesen. Aber sie genügte nicht. Und siehe da, eines Tages entdeckte ich eine ganz neue Freude. Ich fing, schon vierzig Jahre alt, plötzlich an zu malen. Nicht daß ich mich für einen Maler hielte oder einer werden wollte. Aber das Malen ist wunderschön, es macht einen froher und duldsamer. Man hat nachher nicht wie beim Schreiben schwarze Finger, sondern rote und blaue. Auch über diese Malerei ärgern sich viele meiner Freunde. Darin habe ich wenig Glück – immer, wenn ich etwas recht Notwendiges, Glückliches und Hübsches unternehme, werden die Leute unangenehm. Sie möchten gerne, daß man bleibt, was man war, daß man sein Gesicht nicht ändert. Aber mein Gesicht weigert sich, es will sich häufig ändern, es ist ihm Bedürfnis.

Ein anderer Vorwurf, den man mir macht, scheint mir selber sehr richtig. Man spricht mir den Sinn für die Wirklichkeit ab. Sowohl die Dichtungen, die ich dichte, wie die Bildchen, die ich male, entsprechen nicht der Wirklichkeit. Wenn ich dichte, so vergesse ich häufig alle Anforderungen, welche gebildete Leser an ein richtiges Buch stellen, und vor allem fehlt mir in der Tat die Achtung vor der Wirklichkeit. Ich finde, die Wirklichkeit ist das, worum man sich am allerwenigsten zu kümmern braucht, denn sie ist, lästig genug, ja immerzu vorhanden, während schönere und nötigere Dinge unsre Aufmerksamkeit und Sorge fordern. Die Wirklichkeit ist das, womit man unter gar keinen Umständen zufrieden sein, was man unter gar keinen Umständen anbeten und verehren darf, denn sie ist der Zufall, der Abfall des Lebens.

Und sie ist, diese schäbige, stets enttäuschende und öde Wirklichkeit, auf keine andre Weise zu ändern, als indem wir sie leugnen, indem wir zeigen, daß wir stärker sind als sie.

In meinen Dichtungen vermißt man häufig die übliche Achtung vor der Wirklichkeit, und wenn ich male, dann haben die Bäume Gesichter, und die Häuser lachen oder tanzen, oder weinen, aber ob der Baum ein Birnbaum oder eine Kastanie ist, das kann man meistens nicht erkennen. Diesen Vorwurf muß ich hinnehmen. Ich gestehe, daß auch mein eigenes Leben mir sehr häufig genau wie ein Märchen vorkommt, oft sehe und fühle ich die Außenwelt mit meinem Innern in einem Zusammenhang und Einklang, den ich magisch nennen muß.

Einigemal sind mir noch Dummheiten passiert, zum Beispiel tat ich einmal eine harmlose Äußerung über den bekannten Dichter Schiller, worauf alsbald sämtliche süddeutschen Kegelklubs mich für einen Schänder der vaterländischen Heiligtümer erklärten. jetzt aber ist es mir schon seit Jahren gelungen, nichts mehr zu äußern, wodurch Heiligtümer geschändet und Menschen vor Wut rot werden. Ich sehe darin einen Fortschritt. Weil nun die sogenannte Wirklichkeit für mich keine sehr große Rolle spielt, weil Vergangenes mich oft wie Gegenwart erfüllt und Gegenwärtiges mir unendlich fern erscheint, darum kann ich auch die Zukunft nicht so scharf von der Vergangenheit trennen, wie man es meistens tut.

Ich lebe sehr viel in der Zukunft, und so brauche ich denn auch meine Biographie nicht mit dem heutigen Tage zu enden, sondern kann sie ruhig weitergehen lassen, In Kürze will ich erzählen, wie mein Leben vollends seinen Bogen beschreibt. In den Jahren bis 1930 schrieb ich noch einige Bücher, um dann aber diesem Gewerbe für immer den Rücken zu kehren. Die Frage, ob ich eigentlich zu den Dichtern zu rechnen sei oder nicht, wurde in zwei Dissertationen von fleißigen jungen Leuten untersucht, aber nicht beantwortet.

Es ergab sich nämlich als Resultat einer sorgfältigen Betrachtung der neueren Literatur, dass das Fluidum, welches den Dichter ausmacht, in der neueren Zeit nur noch in so außerordentlicher Verdünnung vorkommt, daß der Unterschied zwischen Dichter und Literat nicht mehr feststellbar ist. Aus diesem objektiven Befund zogen die beiden Doktoranden jedoch entgegengesetzte Schlüsse. Der eine, sympathischere, war der Meinung, eine so lächerlich verdünnte Poesie sei überhaupt keine mehr, und da bloße Literatur nicht lebenswert sei, möge man das, was sich heute noch Dichtung nenne, ruhig seinen stillen Tod sterben lassen.

Der andere jedoch war ein unbedingter Verehrer der Poesie, auch in der dünnsten Form, und meinte daher, es sei besser, hundert Undichter aus Vorsicht mitgelten zu lassen, als einem Dichter unrecht zu tun, der vielleicht doch einen Tropfen echten parnassischen Blutes in sich habe.

Ich war hauptsächlich mit Malen und mit chinesischen Zaubermethoden beschäftigt, ließ mich in den folgenden Jahren aber mehr und mehr auch auf die Musik ein. Es wurde der

Ehrgeiz meines späteren Lebens, eine Art von Oper zu schreiben, worin das menschliche Leben in seiner sogenannten Wirklichkeit wenig ernst genommen, sogar verhöhnt wird, dagegen in seinem ewigen Wert als Bild, als flüchtiges Gewand der Gottheit hervorleuchtet. Die magische Auffassung des Lebens war mir stets nahe gelegen, ich war nie ein „moderner Mensch“ gewesen, und hatte stets den „Goldenen Topf“ von Hoffmann, oder gar den Heinrich von Ofterdingen für wertvollere Lehrbücher gehalten als alle Welt- und Naturgeschichten (vielmehr hatte ich auch in diesen, wenn ich solche las, stets entzückende Fabulationen gesehen). Jetzt aber hatte bei mir jene Lebensperiode begonnen, wo es keinen Sinn mehr hat, eine fertige und mehr als genug differenzierte Persönlichkeit immer weiter auszubauen und zu differenzieren, wo statt dessen die Aufgabe sich meldet, das werte Ich wieder in der Welt untergehen zu lassen und sich, angesichts der Vergänglichkeit, den ewigen und außerzeitlichen Ordnungen einzureiben.

Diese Gedanken oder Lebensstimmungen auszudrücken, schien mir nur durch das Mittel des Märchens möglich, und als die höchste Form des Märchens sah ich die Oper an, vermutlich weil ich an die Magie des Wortes in unserer mißbrauchten und sterbenden Sprache nicht mehr recht glauben konnte, während die Musik mir immer noch als ein lebendiger Baum erschien, an dessen Ästen auch heute noch Paradiesäpfel wachsen können. Ich wollte in meiner Oper das tun, was mir in meinen Dichtungen nie ganz hatte glücken wollen: dem Menschenleben einen hohen und entzückenden Sinn setzen. Die Unschuld und Unerschöpflichkeit der Natur wollte ich preisen und ihren Gang bis dahin darstellen, wo sie durch das unausbleibliche Leiden gezwungen wird, sich dem Geiste zuzuwenden, dem fernen Gegenpol, und das Schwingen des Lebens zwischen den beiden Polen der Natur und des Geistes sollte sich heiter, spielend und vollendet darstellen wie die Spannung eines Regenbogens.

Allein leider gelang mir die Vollendung dieser Oper nie. Es ging mir damit, wie es mir mit der Dichtung gegangen war. Die Dichtung hatte ich aufgeben müssen, nachdem ich gesehen hatte, daß alles, was zu sagen mir wichtig schien, im „Goldenen Topf“ und im Heinrich von Ofterdingen schon tausendmal reiner gesagt war, als ich es vermocht hätte. Und so ging es mir nun auch mit meiner Oper. Gerade als ich mit den jahrelangen musikalischen Vorstudien und mehreren Textentwürfen fertig war, und mir den eigentlichen Sinn und Gehalt meines Werkes nochmals möglichst eindringlich vorzustellen suchte, da machte ich plötzlich die Wahrnehmung, daß ich mit meiner Oper gar nichts anderes anstrebte, als was in der „Zauberflöte“ längst schon herrlich gelöst ist. Ich legte daher diese Arbeit beiseite und wandte mich nun vollends ganz der praktischen Magie zu.

War mein Künstlertraum ein Wahn gewesen, war ich weder zu einem „Goldenen Topf“ noch zu einer „Zauberflöte“ fähig, so war ich doch zum Zauberer geboren. Auf dem östlichen Wege des Lao Tse und des I Ging war ich längst weit genug vorgedrungen, um die Zufälligkeit und Verwandelbarkeit der sogenannten Wirklichkeit genau zu kennen. Nun zwang ich diese Wirklichkeit durch Magie nach meinem Sinne, und ich muß sagen, ich hatte viel Freude daran. Ich muß jedoch auch bekennen, daß ich nicht immer mich auf jenen holden Garten beschränkt habe, den man die weiße Magie nennt, sondern je und je zog mich die kleine lebendige Flamme in mir auch auf die schwarze Seite hinüber. Im Alter von mehr als siebzig Jahren wurde ich, nachdem eben erst zwei Universitäten mich durch die Verleihung der Würde eines Ehrendoktors ausgezeichnet hatten, wegen Verführung eines jungen Mädchens durch Zauberei vor die Gerichte gebracht.

Im Gefängnis bat ich um die Erlaubnis, mich mit Malerei zu beschäftigen. Es wurde mir bewilligt. Freunde brachten mir Farben und Malzeug, und ich malte an die Wand meiner Zelle eine kleine Landschaft. Noch einmal war ich also zur Kunst zurückgekehrt, und alle Schiffbrüche, die ich als Künstler schon erlebt hatte, konnten mich nicht im geringsten daran hindern, noch einmal diesen holdesten Becher zu leeren, noch einmal wie ein spielendes Kind eine kleine geliebte Spielwelt vor mir aufzubauen und mein Herz daran zu sättigen, noch einmal alle Weisheit und Abstraktion von mir zu werfen und die primitive Lust des Zeugens aufzusuchen.

Ich malte also wieder, ich mischte Farben und tauchte Pinsel ein, trank noch einmal mit Entzücken alle diese unendlichen Zauber: den hellen frohen Klang des Zinnober, den vollen reinen Klang des Gelb, den tiefen rührenden des Blau, und die Musik ihrer Vermischungen bis ins fernste, blasseste Grau hinein. Glücklich und kindlich trieb ich mein Schöpfungsspiel, und malte also eine Landschaft an die Wand meiner Zelle. Diese Landschaft enthielt fast alles, woran ich im Leben Freude gehabt hatte, Flüsse und Gebirge, Meer und Wolken, Bauern bei der Ernte, und noch eine Menge schöner Dinge, an denen ich mich vergnügte. In der Mitte des Bildes aber fuhr eine ganz kleine Eisenbahn. Sie fuhr auf einen Berg los und stak mit dem Kopf schon im Berge drin wie ein Wurm im Apfel, die Lokomotive war schon in einen kleinen Tunnel eingefahren, aus dessen dunkler Rundung flockiger Rauch herauskam.

Noch nie hatte mein Spiel mich so entzückt wie dieses Mal. Ich vergaß über dieser Rückkehr zur Kunst nicht bloß, daß ich ein Gefangener und Angeklagter war und wenig Aussicht hatte, mein Leben anderswo als in einem Zuchthause zu enden – ich vergaß oft sogar meine magischen Übungen, und schien mir Zauberer genug, wenn ich mit dünnem Pinsel einen winzigen Baum, eine kleine helle Wolke schuf. Indessen gab die sogenannte Wirklichkeit, mit welcher ich in der Tat nun ganz zerfallen war, sich alle Mühe, meinen Traum zu höhnen und immer wieder zu zerstören.

Fast jeden Tag holte man mich, führte mich unter Bewachung in äußerst unsympathische Räumlichkeiten, wo inmitten von vielem Papier unsympathische Menschen saßen, die mich ausfragten, mir nicht glauben wollten, mich anschnauzten, mich bald wie ein dreijähriges Kind, bald wie einen abgefeimten Verbrecher behandelten. Man braucht nicht Angeklagter zu sein, um diese merkwürdige und wahrhaft höllische Welt der Kanzleien, des Papiers und der Akten kennenzulernen. Von allen Höllen, welche der Mensch sich wunderlicherweise hat schaffen müssen, ist diese mir stets als die höllischste erschienen.

Du brauchst nur umziehen oder heiraten zu wollen, einen Paß oder Heimatschein zu begehren, so stehst du schon mitten in dieser Hölle, mußt saure Stunden im luftlosen Raum dieser Papierwelt hinbringen, wirst von gelangweilten und dennoch hastigen, unfrohen Menschen ausgefragt, angeschnauzt, findest für die einfachsten und wahrsten Aussagen nichts als Unglauben, wirst bald wie ein Schulkind, bald wie ein Verbrecher behandelt. Nun, jeder kennt dies ja. Längst wäre ich in der Papierhölle erstickt und verdorrt, hätten nicht meine Farben mich immer wieder getröstet und vergnügt, hätte nicht mein Bild, meine kleine schöne Landschaft, mir wieder Luft und Leben gegeben.

Vor diesem Bilde stand ich einst in meinem Gefängnis, als die Wärter wieder mit ihren langweiligen Vorladungen gelaufen kamen und mich meiner glücklichen Arbeit entreißen wollten. Da empfand ich eine Müdigkeit und etwas wie Ekel gegen all den Betrieb und diese ganze brutale und geistlose Wirklichkeit. Es schien mir jetzt an der Zeit, der Qual ein Ende zu machen. Wenn es mir nicht erlaubt war, ungestört meine unschuldigen Künstlerspiele zu spielen, so mußte ich mich eben jener ernsteren Künste bedienen, welchen ich so manches Jahr meines Lebens gewidmet hatte. Ohne Magie war diese Welt nicht zu ertragen.

Ich erinnerte mich der chinesischen Vorschrift, stand eine Minute lang mit angehaltenem Atem und löste mich vom Wahn der Wirklichkeit. Freundlich bat ich dann die Wärter, sie möchten noch einen Augenblick Geduld haben, da ich in meinem Bilde in den Eisenbahnzug steigen und etwas dort nachsehen müsse. Sie lachten auf die gewohnte Art, denn sie hielten mich für geistig gestört. Da machte ich mich klein und ging in mein Bild hinein, stieg in die kleine Eisenbahn und fuhr mit der kleinen Eisenbahn in den schwarzen kleinen Tunnel hinein. Eine Weile sah man noch den flockigen Rauch aus dem runden Loche kommen, dann verzog sich der Rauch und verflüchtigte sich und mit ihm das ganze Bild und mit ihm ich. In großer Verlegenheit blieben die Wärter zurück.

Hermann Hesse, Kurzgefasster Lebenslauf,

in Gesammelte Werke in 12 Bänden,

6. Bd., S. 391 ff

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

 

 

Erläuterung, Interpretation und Resümee zum Hesse-Gedicht „STUFEN“

 

STUFEN

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

In andere, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

Uns neuen Räumen jung entgegensenden,

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden . . .

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse

 

 

Erläuterung der Abschnitte mit Interpretation – „Stufen“ (H. Hesse)

Hermann Hesse beschreibt in seinem Gedicht „Stufen“ das Leben, wie es sich jedem einzelnen Menschen im Laufe der Zeit offenbart. Ein jeder Mensch erfährt in seinem Leben unterschiedliche Abschnitte; Geburt, Kindergarten, Schule, Beruf, von Hesse als Lebensstufen betitelt. Hesse meint aber nicht nur die großen trivialen Abschnitte sondern auch die Liebe, den meist damit verbundene spätere Kummer, Abschied und Tod und die Angst der Menschen sich auf neue Situationen einzulassen, da sie da das vertraute hinter sich lassen, und sich an neuen Wegen ausprobieren und bewähren müssen. Außerdem beschreibt er, stilistisch, wie sich das Leben im Laufe der Zeit immer mehr verkürzt.

Hesse hat das Gedicht in drei Abschnitte unterteilt:

Der erste Abschnitt ist der längste von der Dreigliederung. Er deskripiert die Jugend, den noch heranreifenden Menschen. Das ist nicht nur aus seiner Länge zu schlußfolgern sondern auch durch das gewählte Reimschema. Es paßt in keines der üblichen Schemen herein und drückt dadurch eine starke Unrast, die Suche nach der eigenen Identität und Individualität aus. Es sind im Prinzip Kreuzreime die allerdings fünffach miteinander verwoben sind. Keiner dieser Reime wird auf die klassische zweifache Bindung gelöst. Hesse spielt damit darauf an, daß der Mensch sich in dieser „Probierphase“ oft Sachen anfängt, dann aber von etwas neuem abgelenkt wird, das für den Moment mehr Aufmerksamkeit bekommt als das was zuvor angefangen wurde. Das soll aber nicht heißen, daß die alten Projekte nie zu Ende geführt werden, sondern wenn, dann über kleinere Umwege oder Irritationen.

Hesse macht in diesem Teil, der Jugend, den Leser auf die verschiedenen Stufen aufmerksam, auf die Tatsache, daß wir immer älter werden und mit der damit verbundenen Reife verschiedene Stufen erklimmen müssen. Dabei kann man keine dieser Stufen überspringen sondern muß jede versuchen so gut als möglich zu leben und dabei die damit verbundenen spezifischen Erfahrungen sammeln.

Er versucht zu vermitteln, daß man die jeweilige neue Stufe nur erreichen kann wenn die Zeit dafür reif ist – erst wenn man selber die nötige physische und vor allem psychische Reife erlangt hat, ist man fähig bestimmte Projekte in Angriff zu nehmen und neue höhere Ziele zu anzustreben.

Der Mensch erreicht eine Stufe nach der anderen, zur positiven Bewältigung gehört aber auch, daß man ausreichende Erfahrungen auf der vergangenen Stufe gesammelt hat. Wenn man diese nicht hat, kann man zwar auch die neue bewältigen aber mit wesentlich mehr Problemen. Auch sollen wir nicht davor zurückschrecken uns in einen neuen Abschnitt unseres Lebens zu begeben; weder aus Angst vor z.B. Mißerfolgen noch aus Sentimentalität, denn an einem solchen Abschnitt können wir nur weiter wachsen; unsere Erfahrungen die wir damit machen, kann uns keiner nehmen. Darin steckt Hesse’s Appell, daß wir unser Leben lang dazulernen, an guten wie an schlechten Erfahrungen.

Die nach der Jugend beginnende Reife beschreibt der mittlere Teil. Er ist um zwei Zeilen verkürzt als die Jugend, da die Unrast und die Suche nach der eigene Legetimation abgeschlossen ist. Die ersten viel Zeilen bestehen aus einem umarmender Reim, da Hesse die dort getroffenen Aussagen als eine Tatsache darstellt. Jedoch die folgenden vier Strophen, wo es wieder um eine neue Exkursion geht, sind in Kreuzreimen verfaßt, da es wieder um eine Lebensumstellung geht, die noch nicht geklärt und dementsprechend verworren ist, nicht so abstrus wie im ersten Teil, da der Mensch ja schon seine eigene Persönlichkeit gebildet hat, und sich auf diese stützen kann.

Dann fuhrt er die Gedanken der Jugend noch weiter aus. Er beschreibt die Frustation, die Menschen erleben können, die sich zu lange mit ein und denselben Dingen Tag für * wenn die neue Lebensstufe auf den ersten Blick als beschwerlich erscheinen mag, sollen wir uns die schönen Dinge heraussuchen und uns an ihnen erfreuen. Aber man muß bereit sein, sich in einen neuen Abschnitt zu wagen, um sich daran selber auszuprobieren. Alles im Leben hat seinen Sinn, auch wenn es manchmal nicht so scheint.

Nach der Reife folgt bei Hesse das Alter, im kürzesten Abschnitt mit nur vier Zeilen, die Hälfte der Länge die die Reife beansprucht. Die Strophe ist in einem umarmenden Reim geschrieben und drückt damit eine innere Ruhe aus, die Beschau- und Besinnlichkeit die der Mensch im Alter meist gefunden hat.

Inhaltlich versucht uns Hesse zu sagen, daß diese Stufen zum einen nie aufhören werden. Selbst wenn wir einmal sterben, wird es eine neue, noch höhere Stufen geben, auf der wir uns aufs neue ausprobieren und bewähren müssen und daß das Leben immer, egal wie schlimm und unerträglich es uns auch manchmal erscheinen mag weitergehen wird und daß wir nur an den Erfahrungen, die wir im Laufe der Zeit machen, lernen können. Wenn wir das wissen, können wir nicht in der Verzweiflung untergehen, denn alles, Glück wie Unglück, Zufriedenheit wie Frustration, sind nur einzelne Abschnitte, an denen wir lernen und uns erproben. Er versucht uns auch die Angst vor dem Tod zu nehmen, indem er uns versucht Hoffnung zu geben, daß es eventuell noch eine höhere Stufe der Vollkommenheit gibt.

Diese Popularisation der einzelnen Abschnitte benutzt Hesse als Stilmittel um unser Empfinden von der Dauer des Lebens zu symbolisieren. Er will uns bewußt machen, daß uns das Leben am Anfang endlos erscheint und uns dann, je älter wir werden, das Gefühl uns ergreift, daß es immer schneller an uns vorbeigeht. Das mag auch an der Gewöhnung von z.B. immer wiederkehrenden Festen liegen, denn je öfter der Mensch das selbe wieder erlebt hat, desto schneller verliert die Sache ihren Reiz.

Es liegt auch dem Zeitgefühl das wir in uns haben. Als Kind kommt uns ein Jahr wie eine Ewigkeit vor, man sehnt sich danach älter zu werden. Doch mit jedem Jahr das wir älter und reifer werden, geht das selbige immer rapider herum, was unter anderem an dem obig beschriebenen Riten zusammenhängt und auch noch mit den Pflichten die man übernimmt, die sich immer weiter steigern. Sei das nun Schule, Beruf, Kinder, etc.

Im Alter schließlich erkennt der Mensch wie kurz doch das Leben ist und lernt den Rest zu schätzen und ihn noch bestmöglich zu nutzen. Und genau wie sich das Zeitgefühl und auch die Lebensspanne verkürzt, reduziert Hesse auch seine Strophen.

Auch in der Sprache benutzt er typische Stilmittel. Erst nachdem die Jugend fast abgeschlossen ist, spricht er den Leser in der letzten Zeile auf persönlicher Ebene an. In der Reife spricht er ausschließlich vertraulich, er bietet uns dabei seine eigenen Moralvorstellungen an, er versucht uns zum individuellen Leben zu ermutigen, das wir eigene Entscheidungen treffen sollen. Das Alter beschreibt er nur sehr wage, er weiß selber nicht was kommt, aber er will uns nicht entmutigen, aufzuhören nachzudenken, sondern Wege weisen, wie man ohne Angst sterben kann. Dabei zieht er ein Resümee aus dem von dem er bislang berichtet hatte.

 

Resümee – „Stufen“ (H. Hesse)

Ich habe mich für dieses Gedicht entschieden, da es eines meiner Lieblingsgedichte ist. Ich finde in diesem Gedicht viel Wahres. Dinge, die ich auch schon in meinem Leben erfahren habe. Man wird immer wieder vor neue, oftmals schwierigere Aufgaben gestellt, die einen auf den ersten Blick unlösbar erscheinen, oder es passieren Dinge, die uns im Moment verzweifeln lassen, daß wir uns ein ums andere Mal nach dem Sinn des Lebens fragen. Hesse erklärt uns diese Erlebnisse mit einem zuerst leicht trivial erscheinendem Gedicht, das uns nur in der Sprache etwas ernst zu nehmender anmutet. Erst nach mehrmaligen Lesen eröffnet sich einem der eigentliche Sinn.

Hesse ist kein Dichter für jedermann, viele mögen seine melancholischen Gedichte und Bücher nicht. Dieses kann ich nachvollziehen, da er gerade in Stufen die Menschen auf die vielen Abschnitte eines jeden Lebens aufmerksam macht und das macht ihnen Angst. Angst vor dem Unbekannten das für uns nicht greifbar ist, Angst vor dem Unausweichlichen. Dabei schlägt er einen sehr schwermütigen Klang an, er erinnert mich an den eines alten, weisen Mannes, der aus seiner Lebenserfahrung heraus berichtet.

Hesse versucht uns begreiflich zu machen, das egal wie morsch sich die Stufe erweist, auf die wir gerade geklettert sind, wir immer unsere eigene Erfahrungen herausgezogen haben und weiter gereift sind. Es gibt keine Rückschritte, auch wenn es auf den ersten Blick manchmal so aussieht. Auch versucht er zu vermitteln, daß sich auch die gesellschaftlichen Normen im Laufe der Zeit ändern, und das wir daran mit wachsen müssen bzw. so positiv beeinflussen sollen, daß sie geändert werden. Das geschieht auf der einen Seite durch die Anpassung an die gegebenen Umstände andererseits auch ein kritisches Hinterfragen der selbigen.

Jeder wird aus dem Gedicht eigene Erlebnisse heraus interpretieren und seine eigene Wahrheiten und Lebensweisheiten herauslesen. Er wird vielleicht von Hesse denken, daß er einer war, der das Leben gut verstanden haben muß; bedenkt dabei aber nicht, daß er nur in Worte gefaßt hat, was uns allen unbewußt klar ist.

Oftmals lesen die Menschen auch nur die Schönheiten aus dem Gedicht heraus und entdecken dabei seinen eher melancholischen Charakter nicht – einerseits fordert uns das Gedicht auf, bereitwillig und fröhlich in die neuen Abschnitte zu gehen, nichts als selbstverständlich hinnehmen sollen, im entfernten Sinne nicht zufrieden sein sollen mit dem, was wir haben, da es immer eine noch höhere Stufe geben wird nach der wir streben sollen, denn nichts ist schlimmer als sich ewig auf vermeindlichen „Lorbeeren“ auszuruhen.

Das setzt allerdings voraus, daß wir auf einer vorhergehenden Stufe gelernt haben, unseren eigenen Horizont zu weiten und das auch nie vergessen und dieses auch immer zu erreichen versuchen. Andererseits weist es uns auch in seiner Ambivalenz darauf hin, jede einzelne Stufe zu genießen, zufrieden zu sein mit dem was wir haben und niemals alten vermeintlich besseren Zeiten hinterher zu trauern. Hesse versucht mit seinem Gedicht den Menschen zu vermitteln, daß das Leben trotz größter Katastrophen nicht endet, sondern immer wieder einen neuen Weg weist, wir dürfen nur nicht die Hoffnung aufgeben, sondern diesen Weg versuchen zu begehen, auch wenn es uns noch so schwer fällt.

Und nun, liebe Feingeister, denkt nach, wie wir den herausragenden Geistesschatz von Hermann Hesse noch breiter unter die Leute bringen?

Ihre OPD.

1 Antwort bis jetzt ↓

  • 1 Alexandria // Nov 14, 2010 at 11:28

    Ich verehre Hermann Hesse. Er war ein großer Denker, der uns allen einen Schatz hinterlassen hat. Einen wertvollen Geistesschatz.